Skagen-Zeit

Stefan Schwerdtfeger

Skagen jener Ort an der Spitze Jütlands, dort wo Ostsee und Nordsee sich treffen, zeichnet sich durch landschaftliche Vielfalt und eine durch das nördliche Licht hervorgerufene sehr eigene Atmosphäre aus. Diese Besonderheit des Ortes zog schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts Maler und Dichter nach Skagen, die dort ähnlich wie in Worpswede eine Künstlerkolonie bildeten.

Die Faszination der Landschaft um Skagen liegt in ihrer Eigenartigkeit und Unterschiedlichkeit, geprägt durch sich ständig verändernde klimatische Bedingungen und einmalige Lichtverhältnisse, die Dünenlandschaft mit den wüstenähnlichen Formationen der Rabjergmile, der größten Wanderdüne Europas, Heide, Moor, Wald und dann vor allem durch die Weite des Strandes und des Meeres mit dem hohen nördlichen Himmel, mit Wetter und Wolken, einem Horizont, der jeden Abend zum Sonnenuntergang neue überraschende Bilder farbiger Schönheit produziert. Aber auch der Kontrast dazu mit Sturm, horizontal peitschendem Regen, dunklen Tagen und langen Nächten im Winter. Unvergessen die bis an den Horizont zugefrorene Ostsee mit einer an Caspar David Friedrich erinnernden Eisschollenlandschaft.

Skagen ist nicht nur einmalige Landschaft, Skagen ist auch Hafen mit Schiffen, einer kleinen Werft, Netz- u. Segelmachern, allerlei Betrieb und Gerüchen um Fische, die dort von den typisch skagenblauen Kuttern angelandet und vermarktet werden. Die Wohnhäuser, besonders im alten Teil der Stadt, an den Hafen angelehnt, sind eingeschossig und durch ihre gelbe Farbe, das typische Skagengelb, und die an First und Ortgang weiß gestrichenen Fugen der Dachziegel in ihrem einheitlichen Erscheinungsbild unverwechselbar.

Fest mit der Landschaft verwoben sind auch die Zeugnisse der Vergänglichkeit und Geschichte. Verlassene Höfe, Spuren, von langsam zuwachsenden Wegen, senkrecht am Strand aufgestellte Holzpfähle, die früher den Fischern von See als Orientierung dienten, vielfältiges Strandgut, eingesandete alte Holzkisten, hölzerne Fischkisten, die von Schottland jahrelang über die Nordsee getrieben sind, Teile von Schiffen, Knäule von grünfarbigen Netzen, altes Tauwerk, zerrissene Segel, farbige Eimer oder auch zerschlagenes Gerät, dies alles mit Sand verweht und vom Meerwasser und der Sonne patiniert.

In diesem Zusammenhang müssen auch die Relikte des 2. Weltkrieges genannt werden, die Bunker, die von der deutschen Wehrmacht an der Küste errichtet wurden. Bis heute sind diese Zeugnisse des Krieges und der deutschen Besetzung von Dänemark sichtbar. Sie haben bisher jeder Sprengung widerstanden, nur langsam versinken sie ein wenig nach jedem Orkan oder einer Sturmflut im Strand. So stehen diese grauen Blöcke immer noch Widerstand leistend gegen ihre endgültige Zerstörung, auch als Mahnung für zukünftige Generationen.

Im Frühjahr 1981 hatte ich ein Freisemester und war von Februar bis zum beginnenden Frühjahr in Skagen, um dort in einer als Atelier zu nutzenden Fischerbude im Hafen künstlerisch zu arbeiten. Es entstanden Bilder und Objekte. Ich verwendete für meine Arbeiten vorwiegend Materialien, die ich am Strand oder auf Streifzügen durch den Hafen vorfand: Sand, Teer, verwittertes Holz, allerlei Strandgut, Netze und Tauwerk, verrostetes Eisenblech oder auch Stofffetzen von Positionsfahnen der Fischer.

Meine künstlerische Absicht war, über die Materialien eine Aussage zum Ort zu erreichen, mich mit dem Ort und seinen Bedingungen auseinanderzusetzen. Wichtig war mir hierbei, dass die verarbeiteten Teile ihre ursprüngliche Funktion verloren und im Bild oder als Objekt eine neue Identität bekamen. Ich tauchte ein in die Vielfalt des Ortes, es war der genius loci der mich berührte. So entstanden eine ganze Reihe ortsbezogener Arbeiten. Josef Nolte, der an der Universität Hildesheim Kunstgeschichte lehrt, hat meine künstlerische Arbeit später unter den von ihm geprägten Begriff der Topophilie gestellt.

In jenem Frühjahr 1981 bat ich Norbert Schittek, der damals am Lehrstuhl für Experimentelles Gestalten und Modellieren als wissenschaftlicher Assistent tätig war, mit einem Lastwagen nach Skagen zu kommen, um meine Arbeiten nach Hannover zu transportieren. Er beschäftigte sich damals sehr intensiv mit Fotographie als künstlerischem Ausdrucksmittel und hatte auch auf dem Gebiet der Fotographik beachtliche Erfolge erzielt. Auch er war fasziniert von Skagen, was übrigens bis heute anhält und dem Spruch der Skagener entspricht: wer einmal nach Skagen kommt, kommt immer wieder.

Ich glaube, dass seine ersten intensiven Beobachtungen und Wahrnehmungen von Landschaft damals in Skagen begannen. Dies fand seinen Niederschlag in sehr intensiv herausgearbeiteten Fotos der typischen Merkmale und Besonderheiten des Ortes. Während seines Aufenthalts mit mir in Skagen entstand dann eine Idee zu einem Projekt, dass die beiden künstlerischen Mittel Malerei und Fotographie zu einer gemeinsamen Aussage über den Ort Skagen zusammenführen sollte.

Meine Bildobjekte brachten wir zurück an den Ort ihres Ursprungs, zurück an den Strand, stellten sie in die Landschaft, ins Wasser, ans Meer, in den Hafen oder auch auf die Werft. Wir suchten gemeinsam geeignete Positionen und Norbert Schittek fotographierte diese situationsbezogenen Objekte in ihrem landschaftlichen Kontext.

Zur gleichen Zeit war der Lyriker Gregor Laschen in Skagen und schrieb, ebenso angeregt durch die Atmosphäre des Ortes, Gedichte von großer Eigenart. In Gesprächen bei ausgewählter dänischer Frokost nahm der Gedanke Gestalt an, gemeinsam ein Buch zu verfassen, in dem wir drei jeweils in unserer künstlerischen Sprache mit unserer Arbeit Aussagen zum Ort äußern.

In der Einleitung zu diesem Buch mit dem Titel "Anrufung des Horizonts Skagen-Zeit", das 1987 in der edition die horen erschienen ist, heißt es: "Die Bilder und Objekte von Stefan Schwerdtfeger, die Gedichte von Gregor Laschen und die Fotos von Norbert Schittek sind Beispiele dreier verschiedener Lesarten eines Textes, der zunächst Skagen heißt. Ein Text, der sich im Prozess der künstlerischen Annäherung an ihn als Geschichtsort erweist, als sinnlich-ästhetischer Weg von Landschaft zu Welt, zugleich aber behaftet bleibt mit seiner ursprünglichen Herkunft wie der inneren Korrespondenz der unterschiedlichen Sehweisen, ihren Reibungen".

 

Die Wanderung der Steine

Am Grunde der Meere lauschen die Steine, zu
Form gekaut von zu endegekommenen Schiffen und
ihren Leichen und sehen die alten Flüsse kommen
und haben keine Pause seit Anfang an.
Nur das Gesicht.

Hier: Kattegat
und Skagerak
ineinsgetrieben.
Und die Zeiten wechseln eben nicht.

So lauschen am Grunde der Meere die Steine,
zurechtgekaut für den Landgang, wo sie
erneut unter Zähne des Windes fallen
und keine Pause haben seit Anfang an.
Aber das Gesicht.

(Gregor Laschen)